Perry-Rhodan-Fortsetzungsgeschichte von Roland Triankowski
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1. Der letzte Mensch auf Erden
Perry Rhodan erwachte und begann mit seiner Morgenroutine, die ihm in den letzten Jahrhunderten in Fleisch und Blut übergegangen war. Er stieg aus seinem Schlafsack, absolvierte ein paar Lockerungs- und Dehnungsübungen und trat aus dem Zelt. “Guten Morgen Argos”, begrüßte er den vierbeinigen Roboter, der dort wie immer Wache hielt. In leichtem Trab lief Rhodan zum Fjord hinunter, sprang ins eiskalte Wasser und schwamm ein paar Bahnen.
Eine knappe Stunde später saß er angekleidet mit einem dampfenden Becher Kaffee in der Hand auf einem Felsen und betrachtete den Sonnenaufgang. Das Zelt und die restliche Ausrüstung waren bereits auf dem Rücken des Vierbeiners verstaut, der abmarschbereit neben Rhodan hockte.
Als sich die rote Sonne von den Bergkuppen im Osten löste, leerte Rhodan seinen Becher, schüttelte beim Aufstehen die letzten Tropfen aus und hängte ihn an einen Haken an dem Gepäck auf Argos’ Rücken.
“Komm!”, sagte er und marschierte in Richtung Südwesten, weiter der zerklüfteten Küste Norwegens folgend. Auch wenn der hundeähnliche Roboter keinen Kopf und keine erkennbaren Sensoren hatte – im Grunde bestand er nur aus einer Plattform und vier Beinen – reagierte er sofort und folgte Rhodan geschickt auf dem felsigen Pfad, der vor ihnen lag.
“Wo war ich stehengeblieben?”, fragte Rhodan nach einer Weile.
“Du hast von der Entstehung der Superintelligenz THERMIOC berichtet”, sagte Argos.
An der Modulation seiner künstlichen Stimme hatte Rhodan seit fast hundert Jahren nicht mehr herumgebastelt. Der sonore, keiner konkreten Person zuzuordnende Klang gefiel ihm immer noch recht gut.
Rhodan nickte. Sie hatten vor ein paar Wochen die Stadt Namsos durchquert, das hatte ihn zu dieser Geschichte inspiriert.
“Zu jener Zeit”, setzte er seinen Bericht fort, “waren BARDIOC und die Kaiserin von Therm noch immer zwei verschiedene Wesenheiten, die sich unverändert gegenseitig bekriegten.”
*
Die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten, als Rhodan und Argos ihre Wanderung für eine Rast unterbrachen. An der roten Farbe der Sonne hatte sich nichts Wesentliches geändert, doch Rhodan hatte sich schon vor sehr langer Zeit an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt. Nur noch selten dachte er darüber nach, ob ihm das gelbe Licht von Sol inzwischen unnatürlich vorkommen würde. Er musste spontan schmunzeln, als er sich daran erinnerte, wie er diesen Stern zu Beginn dieses Lebensabschnitts getauft hatte. Krypton. Er war jedoch schon lange dazu übergegangen, ihn schlicht und einfach Sonne zu nennen.
Sein Blick wanderte über den strahlend blauen frühsommerlichen Himmel. Fast war er erleichtert, dass der andere Himmelskörper zurzeit nur nachts zu sehen war. Ihn “Mond” zu nennen hatte er sich nie durchringen können.
“Zeig mir mal die Karte, Argos”, sagte er. “Ich will mir unsere nächste Etappe noch einmal anschauen.”
Der Roboter kam ein paar Schritte näher getippelt und projizierte eine holografische Reliefabbildung der Umgebung. Mit geübten Handbewegungen bewegte Rhodan die Karte, zoomte einige Stellen heran und betrachtete das Terrain, das in südwestlicher Richtung vor ihnen lag.
“Schau mal”, sagte er schließlich. “Vielleicht schaffen wir es heute sogar schon bis zu diesem Fjord. Dort scheint es eine geeignete Frischwasserquelle zu geben.”
“Das Ziel wäre leicht bis Sonnenuntergang zu erreichen”, sagte Argos. “Da ich noch gut neun Liter Frischwasser bei mir trage, wäre es jedoch nicht zwingend erforderlich.”
“Wie sieht es ansonsten mit den Vorräten aus?” Rhodan wusste die Antwort im Groben, hielt sich aber stets an den Grundsatz, nie seine Konversationsfähigkeiten einrosten zu lassen.
“Ich habe noch knapp 100.000 Kalorien in Form von Konzentratriegeln dabei und etwas über 10.000 Kalorien in frischer Nahrung. Die medizinischen Vorräte sind unangetastet, seit wir sie in Namsos aufgefüllt haben.”
Nach einer kurzen Pause fügte die Maschine hinzu: “Falls du dich als Jäger und Sammler betätigen möchtest, scanne ich gern die Umgebung nach geeigneten Zielen.”
“Nein danke”, sagte Rhodan und machte sich abmarschbereit. “Ich möchte nur ein wenig die Landschaft genießen. Lass uns aufbrechen.”
*
Nach Sonnenuntergang saß Rhodan noch lange vor seinem Zelt und blickte in die Sterne. Er kannte die Konstellationen, die sich dem Betrachtenden von hier aus darboten, in- und auswendig. Zum Teil aus dem Grund, dass er sich vor ein paar Jahrhunderten als Astronom betätigt und ganz bewusst mit historischen Instrumenten den Sternenhimmel kartografiert hatte. Vor allem aber aus purer Gewohnheit. Der Trabant war zurzeit nur eine schmale Sichel, Rhodan hätte sich von ihm jedoch in keinem Fall ablenken lassen. Seine Aufmerksamkeit galt voll und ganz einer Himmelsregion, in der er einen ganz bestimmten Stern wusste, die einzig wahre Sonne Sol.
*
Seit seiner Atlantiküberquerung vor drei Jahren verliefen Rhodans Tage allesamt nach diesem Muster – zumindest in den Sommermonaten, die er für seine Wanderung an der norwegischen Küste entlang nutzte. Er versuchte ganz bewusst, sich an Jahreszeiten, Sonnenstand und den allgemeinen natürlichen Gegebenheiten zu orientieren – und das jeweilige Datum geflissentlich zu ignorieren, sei es nun da Ark, anno Domini, NGZ oder wonach auch immer gerade auf den bewohnten Welten der Milchstraße gezählt wurde. Da er Argos jederzeit danach fragen konnte – und es hin und wieder auch tat – war es mit diesem Vorhaben nie sonderlich weit her. Dennoch trug es sehr zu seiner Ausgeglichenheit bei, wenn er sich auf diese Weise dem Zeitablauf entzog.
Er konnte daher gar nicht mehr auf Anhieb sagen, wie viele Tage oder Wochen vergangen waren, seit Argos und er Namsos verlassen hatten. Es war ein Tag wie jeder andere. Sie hatten gerade eine Anhöhe erklommen, als die vierbeinige Maschine mit einem Mal mit ungewohnt lauter und tonloser Stimme vermeldete: “Annäherungsalarm! Unbekanntes …” Sie verstummte sogleich wieder, sank langsam in eine liegende Position und verharrte dann reglos.
Rhodan machte sich gar nicht erst die Mühe, Argos anzusprechen. Ohnehin wusste er, dass die letzten Worte nicht von der lokalen KI seines Begleiters stammten, sondern von dem Großrechner ARGOS, der auf dem Trabanten stationiert war und der die Erde und den Raum um Krypton überwachte. Er setzte sich vielmehr auf die nächstgelegene Anhöhe und betrachtete den Himmel.
Es dauerte nicht lange, bis er etwas entdeckte. Im Westen erschien ein leuchtender Punkt am Himmel, der schnell heller und größer wurde. Wie ein Meteor zog das Objekt einen Schweif hinter sich her und hielt dabei auf die Küstenlinie zu. Rhodan nahm an, dass es ein paar Kilometer südlich von seiner Position aufschlagen würde.
So kam es auch. Ihm klang noch der Lärm der verdrängten Luftmassen in den Ohren, als er den Aufschlag sah. Etwa zehn Sekunden später erreichte ihn das dazugehörige Geräusch, bald gefolgt von der auslaufenden Schockwelle und einem leichten Beben im Boden. Nichts davon konnte Rhodan wesentlich beeinträchtigen – als wäre es genauestens abgepasst worden.
Rhodan vermutete, dass er vor etwa zehntausend Jahren zum letzten Mal das Gefühl hatte, etwas zum ersten Mal zu erleben. Es war eine schlichte Tatsache, dass er buchstäblich alles gesehen hatte, was es zu sehen gab. Das galt im Besonderen für den Anblick eines vierarmigen tonnenschweren Wesens, das im gestreckten Galopp auf ihn zugerast kam. Haluter, Bestien, Zweitkonditionierte, Paladin-Roboter, Anti-Haluter, Neo-, Para- und Pseudo-Bestien, ob sie nun in guten oder schlechten Absichten auf einen zukamen, machte für den oberflächlichen Betrachter kaum einen Unterschied. Rhodan erkannte jedoch ganz genau, dass sich dieses Exemplar gerade ausreichend zurückhielt, um ihn nicht zu verletzen.
Tatsächlich rammte es rechtzeitig all seine Gliedmaßen in den Boden und passte seinen Bremsweg dergestalt ab, dass es nur wenige Meter vor der Anhöhe in einer Schuttwolke zum Stehen kam. Die mächtige Gestalt stapfte über den Erdhaufen, den sie bei ihrem Bremsvorgang vor sich hergeschoben hatte und kam auf Rhodan zu.
“Sei gegrüßt, Junioros!”, sagte Rhodan. “Ich hatte frühestens in hundert Jahren wieder mit dir gerechnet.”
Der Angesprochene unterband jedes weitere Wort indem er brüllte: “Was erlauben Sie sich, Perry Rhodan! Ich verbitte mir diese vertrauliche Anrede!”
Wesentlich leiser fügte er hinzu: “Mein Elter ist vor etwa dreihundert Jahren verstorben. Ich bin Fancan Tolot der Dritte.”
Rhodan formulierte eine traditionelle halutische Kondolenzformel. Da er die dazugehörige Geste mit nur zwei Armen nicht ausführen konnte, verneigte er sich leicht. Auf Interkosmo fuhr er fort: “Mein herzliches und tief empfundenes Beileid, Fancan Tolot! Es schmerzt mich, das zu hören. Ihr Elter war ein großer Geist. Und verzeihen Sie meine Indiskretion Ihnen gegenüber.”
“Er hatte ein erfülltes Leben, das bald viertausend Jahre währte”, sagte der Haluter. Er hatte sich inzwischen direkt vor Rhodan aufgebaut, sodass dieser seinen Kopf weit in den Nacken legen musste, um den Kopf des anderen erkennen zu können.
“Aber nun zu Ihnen!”, fuhr Fancan Tolot fort. Wie beiläufig streifte er Rhodan mit seiner Hand am rechten Handlungsarm. Der Stupser war heftig genug, dass Rhodan hintenüber auf den Rücken fiel. Gleichzeitig ließ der Haluter sich auf die Laufarme fallen, sodass sein riesiger mit Kegelzähnen gespickter Rachen direkt vor Rhodans Gesicht hing. Dann fuhr er seine drei Stielaugen aus und musterte das Antlitz des unsterblichen Terraners.
“Was treiben Sie hier?”, fragte Tolot mit grollender Stimme.
“Ich wandere”, antwortete Rhodan knapp.
“Mit welchem Ziel?”
“Keinem besonderen. Zunächst möchte ich der Küste Norwegens folgen. Zumindest auf der Erde ist die Fjordlandschaft ziemlich einzigartig. Falls ich nicht die Lust verliere, umrunde ich danach eventuell die ganze skandinavische Halbinsel und dann vielleicht die Ostsee.”
“Laut den Aufzeichnungen von ARGOS haben Sie sich bis vor kurzem auf dem Kontinent dahinten aufgehalten.” Tolot wies mit seinem linken Handlungsarm grob nach Westen. “Als mein Elter Sie vor fünfhundert Jahren zuletzt kontrollierte, fand er Sie in der Region Terrania vor. Warum die Ortswechsel?”
“Die Erde ist das schönste Gefängnis, das ich mir vorstellen kann”, sagte Rhodan. “Dennoch ist sie mein Gefängnis. Gestatten Sie mir bitte, dass ich ein wenig darin umhertigere.”
Fancan Tolot knurrte daraufhin, was wohl signalisieren sollte, dass er mit der Antwort nicht zufrieden war.
“Das menschenleere Terrania hat mich auf Dauer mit Wehmut erfüllt”, sagte Rhodan. “Daher habe ich damit begonnen, die Erde zu bereisen. Mal habe ich mir ein Flugzeug gebaut, mal ein Segelboot – und manchmal bin ich zu Fuß unterwegs. Da drüben in Amerika bin ich vor langer Zeit geboren und aufgewachsen, dort habe ich es recht lange ausgehalten. Aber auch nicht ewig.”
Die drei rotglühenden Augen pendelten weiterhin über Rhodans Gesicht, als wollte Tolot damit jede seiner Regungen scannen, sei sie auch noch so gering.
“In den bald tausend Jahren ihres Exils haben Sie sich fast ausschließlich auf der Nordhalbkugel aufgehalten. Wieso?”
Rhodans Blick fixierte eines der Stielaugen, das daraufhin tatsächlich die Bewegung einstellte und einer hypnotisierten Schlange gleich verharrte.
Die Stimme des Terraners war sehr leise als er antwortete: “Weil man nur von hier aus die Sonne beobachten kann.”
Einen Moment lang schwiegen die beiden ungleichen Wesen.
Dann fuhr Fancan Tolot seine Augen ein, stieß sich mit seinen Laufarmen vom Boden ab und kam auf seinen beiden Säulenbeinen zu stehen.
“Sie wissen, welches Jahr wir haben.” Der Haluter formulierte es nicht als Frage.
Rhodan antwortete trotzdem: “Anfang 19. Jahrtausend NGZ, wenn ich mich nicht irre. Falls Ihnen das noch etwas sagt.”
“Sie wissen ganz genau, was ich meine”, fuhr Tolot fort. “Mein Urgroßelter hat dieser Form Ihres Exils nur unter der Bedingung zugestimmt, dass Sie sich nicht einmischen. Nie wieder. Wenn Sie versuchen, diesen Planeten zu verlassen oder Kontakt zu höheren Mächten aufzunehmen, werden wir es erfahren und entsprechend handeln.”
“Was soll das, Fancan Tolot der Dritte?” Rhodan hatte sich längst wieder erhoben und kam nun einen Schritt auf den Haluter zu.
So absurd es bei dem Größenunterschied erscheinen mochte, Tolot konnte sich gerade noch beherrschen, seinerseits keinen Schritt zurückzugehen.
“Wenn ES oder einer seiner Boten hier auftaucht und meinen Zellaktivator einfordert”, sprach Rhodan weiter, “werde ich ihn wohl oder übel herausrücken müssen. Und Ihrem Urgroßelter wird es genauso gehen. Was also wollen Sie von mir?”
Unvermittelt wurde ein gutes Dutzend Meter über ihrem Standort eine schwarze Kugel sichtbar. Das Raumschiff war ohne jede Begleiterscheinung aufgetaucht und erfasste den Haluter offenbar mit einem Traktorstrahl. Während er langsam in die Höhe schwebte, sagte er: “Die Vereinten Sterne der Milchstraße sind seit Jahrtausenden in der Lage, Einmischungen von außen abzuwehren und zu unterbinden, anmaßende so genannte hohe Mächte ausdrücklich eingeschlossen. Machen Sie sich also keine Sorgen um uns, Rhodan! Tigern Sie gern weiter um Ihren Planeten herum, aber unterstehen Sie sich, irgendwelche Dummheiten zu machen.”
*
Am Abend hatten Rhodan und Argos ganz in der Nähe ihr Lager aufgeschlagen. Wenige Augenblicke nach dem Verschwinden des Haluterschiffes war der Roboter wieder zum Leben erwacht. Als wäre nichts gewesen hatte der Terraner einen kleinen Marsch direkt ans Ufer angesagt. Dort saß er nun und betrachtete den stetig dunkler werdenden Abendhimmel.
Bis jetzt hatte die Maschine geschwiegen, nun richtete sie wieder ihr Wort an Rhodan.
“Es tut mir leid, dass ich keine Hilfe war”, sagte sie.
“Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen”, sagte der Terraner mit ruhiger Stimme. “Du hast alles richtig gemacht und dich genau so verhalten, wie es vorgesehen ist.”
Nach einer Weile blickte er an den Himmel, wo die Sichel des Merkur schon deutlich dicker geworden war.
“Das gilt auch für dich, ARGOS”, sagte Rhodan.
2. Zwischen den Galaxien
Der Geist trieb ohne Sorgen und ohne Schmerzen durch den Kosmos. Er hatte nur noch eine blasse Vorstellung von der Bedeutung dieser Begriffe und von der damit verbundenen Körperlichkeit. Nur selten blitzten derartige Erinnerungen in ihm auf, um dann sofort wieder zu verfliegen. Auch ohne Körper nahm er die Dinge um sich herum wahr, interpretierte sie und verarbeitete ganz allgemein Reize, hierbei waren ihm jedoch keine Grenzen durch irgendwelche Sinnesorgane gesetzt. Er sah, fühlte, schmeckte die Galaxien und Sterne in ihrer vollständigen Pracht. Wenn ihm eine Sterneninsel besonders ansehnlich erschien, sprang er hinein wie in eine Sommerwiese, betrachtete die einzelnen Sterne wie hübsche Blüten und erfreute sich an ihrem Strahlen. Außergewöhnliche Exemplare umkreiste er in allen Raum- und Zeitebenen, fuhr ihren Lebenslauf auf und ab von der protoplanetaren Scheibe bis zur Supernova und wieder zurück. Zeit und Raum konnten ihm keine Fesseln anlegen, er war frei.
Bis er zu einem Zeitpunkt an einem Ort eine längst vergessene Erfahrung machte. Es war wie eine Erinnerung, jedoch verbunden mit etwas anderem. Etwas, das berauschend und schmerzhaft gleichermaßen war. Nun fiel ihm wieder ein, was Schmerz war. Auch wenn das, was er empfand, ganz am unteren Ende seiner Bandbreite lag. Wehmut, das war das richtige Wort. Wehmut und Sehnsucht nach etwas, dass unfassbar weit in seiner Vergangenheit lag und das paradoxerweise mit noch mehr Schmerz verbunden war. Leben heißt leiden, diese einfache Wahrheit stand mit einem Mal in seinem Bewusstsein. Und er wusste, dass er sich danach sehnte. Er sehnte sich nach seinem Körper, an den er sich schlagartig und schmerzlich erinnerte.
Die Sehnsucht wuchs unkontrollierbar an, bis sie sein gesamtes Sein erfüllte. Sie nicht befriedigen zu können, versetzte ihn in Panik – ebenfalls eine Empfindung, die er bereits vor Äonen vergessen hatte. Von einem Moment auf den anderen war er nur mehr ein Bündel aus Angst und Furcht, das weder ein noch aus wusste. Kurz bevor er glaubte, dem Wahnsinn verfallen zu müssen, spürte er einen Sog. Eine Kraft, die an ihm zog und seinen paralysierten Geist in eine bestimmte raumzeitliche Richtung bewegte. Diese Erkenntnis lenkte ihn einen Moment lang ab, als er jedoch merkte, dass er sich diesem Sog nicht entziehen konnte, wuchs seine Angst wieder an. Immer schneller raste er auf einen Punkt zu. Genauso rasten seine Gedanken. Immer mehr Erinnerungen prasselten auf ihn ein: Bilder, Gerüche, Gefühle, Geräusche, Worte, Namen, sein Name.
*
“Ernst Ellert? Kannst du mich hören?”
Die Frau beugte sich über das Gesicht des Mannes und sah, wie sich seine Augäpfel hinter den geschlossenen Lidern bewegten.
Schlagartig riss er die Augen auf, schnappte lautstark nach Luft und bäumte sich auf, als würden furchtbare Schmerzen durch seinen Körper rasen.
Die Frau erschrak nicht, wich aber dennoch reaktionsschnell zurück.
“Was ist mit ihm, Medshadh?”, fragte sie. “Du hast gesagt, dass seine neuronale Struktur vollständig hergestellt ist.”
“Ja, Mag…” Der Angesprochene unterbrach sich sofort, als ihn ein strenger Blick der Frau traf. Er setzte erneut an und sagte: “Es ist alles in Ordnung. Sein Bewusstsein muss sich nur wieder an die Körperlichkeit gewöhnen. Schau, Herzschlag und Atmung beruhigen sich wieder! Alle anderen Werte sind völlig normal.”
Tatsächlich war Ellert wieder zur Ruhe gekommen. Sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, er lag mit offenen Augen auf dem Lager und schaute sich um. Sein Gesicht drückte nur noch Staunen und Neugierde aus.
Die Frau lächelte ihn an und sagte: “Ernst Ellert, es freut mich so sehr, dass du zu uns gefunden hast. Ich habe es nicht mehr zu hoffen gewagt. Mein Name ist Nikki Rhodan und ich brauche deine Hilfe.”
Ellerts Blick fixierte sie, seine Augen waren wach und klar, ein Lächeln begann seinen Mund zu umspielen.
“Eine gewisse Ähnlichkeit ist vorhanden”, sagte er. Seine Stimme klang rau. Dafür, dass er sie in diesem Körper noch nie benutzt hatte, war sie aber gut verständlich.
“Freut mich Dich kennenzulernen, Nikki Rhodan”, fügte er hinzu und richtete sich auf. Dann schaute er den anderen Anwesenden an und sagte: “Ich grüße auch dich, mein Freund. Mein Name ist Ernst Ellert, aber das weißt du vermutlich längst.”
“Ähm, ja”, sagte der andere. Seine Augen wanderten zwischen Ellert und Nikki Rhodan hin und her. “Ich bin Medshadh. Sei gegrüßt, Ernst Ellert.”
“Freut mich, Medshadh”, sagte Ellert. “Du bis Yaanztroner, nicht wahr?”
“So nennen sie sich schon lange nicht mehr”, kam Rhodan Medshadh zuvor. “Sein Volk stammt von einem Flüchtlingskonvoy ab, den es vor Jahrtausenden von Naupaum nach Andromeda verschlagen hat. Er ist Arzt und hat bei deiner”, sie zögerte eine Winzigkeit, “Erweckung geholfen.”
Ellert nickte dem bepelzten Wesen mit den spitzen Ohren noch einmal freundlich zu, ging aber nicht weiter auf das Thema ein. “Wir befinden uns in Andromeda?”, fragte er stattdessen.
“Nein”, antwortete Rhodan. “Wir befinden uns an Bord des Raumschiffs DELORIAN IX im intergalaktischen Leerraum zwischen Andromeda und der Milchstraße.”
Sie reichte ihm ihre Hand und sagte: “Aber jetzt, da du endlich wieder einen Körper hast, willst du sicherlich erst einmal ein paar Sinneseindrücke genießen. Wie wäre es, wenn wir unsere Unterhaltung bei einem guten Essen fortsetzen.”
Ellert nahm die Hand und stand vorsichtig von dem Lager auf. Der Körper fühlte sich überraschend kräftig und gesund an. Sein Stand und seine ersten Schritte waren zwar etwas unbeholfen aber keineswegs schwächlich.
“Wo wir gerade von diesem Körper sprechen”, sagte er. “Er fühlt sich so vertraut an, fast, als wäre es jener, in dem ich vor Äonen geboren wurde. Wie kann das sein?”
“Glaub mir”, sagte Rhodan, hakte sich bei Ellert ein und führte ihn aus dem Raum, der vermutlich eine Art Krankenstation war. “Es war nahezu unmöglich, heute noch genetisches Material von Deinem Originalkörper zu rekonstruieren.”
“Dann ist es ein Klonkörper?”
“So etwas ähnliches.”
Die Tür führte nicht in einen Korridor, sondern in eine kleine Kammer mit zwei gegenüberliegenden Ausgängen. Ellert meinte in dieser Kammer ein kurzes Ziehen im Nacken zu verspüren. Und war da nicht auch ein Flackern in der Beleuchtung? Nikki Rhodan ging jedoch unbeirrt voran und führte Ellert durch den anderen Ausgang.
Sie betraten einen Saal, in dem einige Tische und Stühle locker verteilt waren, unschwer als Messe oder Mensa zu erkennen. Auf den am nächsten gelegenen Tisch schwebte auch schon ein kleiner vielarmiger Roboter zu, der zwei dampfende Schalen, zwei Trinkbecher und auf den ersten Blick undefinierbares Besteck abstellte und wieder davonschwirrte.
Ellert zögerte und schaute sich um.
Nikki lachte auf und sagte: “Ja, das war ein Transmitterdurchgang. Heutzutage sind die Räume in unseren Schiffen auf diese Weise miteinander verbunden, spart den Platz für Korridore und lässt es zu, dass die Innenräume nach anderen Effizienz-Gesichtspunkten konfiguriert und umgruppiert werden können.”
Sie führte ihn an den Tisch, schob ihm den Stuhl zurecht und setzte sich schließlich ihm gegenüber.
“So, nun essen wir erst einmal etwas”, sagte sie. “Danach reden wir.”
*
“Ich fasse zusammen”, sagte Ellert nachdem Nikki Rhodan ihren Bericht beendet hatte. Das durchaus schmackhafte Essen – eine Art Nudelsuppe – hatten sie derweil verzehrt, Geschirr und Besteck – letzteres eine bizarre Mischung aus Stäbchen, Zange und Löffel, mit der Ellert erstaunlich gut zurechtgekommen war – waren längst abgeräumt. “Wir befinden uns im 19. Jahrtausend NGZ, was bedeutet, dass die 20.000-Jahresfrist von ES für die Menschheit so gut wie abgelaufen ist.”
Rhodan nickte. “Das ließ sich vermutlich noch nie exakt vorhersagen, aber wir rechnen damit, dass ES spätestens in ein, zwei Jahren von sich hören lässt.”
“Um das gleich zu betonen”, sagte Ellert. “In der Angelegenheit kann ich nicht weiterhelfen. Ich habe mich schon vor ewigen Zeiten vom Kollektivbewusstsein von ES gelöst und bin erstrecht nicht mehr sein Bote.”
Nikki Rhodan hob abwehrend die Hände und sagte: “Alles gut, das habe ich mir schon gedacht.”
Ellert nickte und fuhr fort: “Also weiter im Text. Die Menschheit lebt inzwischen fast ausschließlich außerhalb der Milchstraße im so genannten Trojanischen Tamanium, das sich über Andromeda, Pinwheel und Hangay erstreckt, denn die Milchstraße wird seit ein paar tausend Jahren von Icho Tolot beherrscht?”
Er ließ den Satz in eine Frage auslaufen und setzte eine skeptische Miene auf.
“Man kann es nicht anders ausdrücken”, sagte Rhodan und zuckte mit den Schultern. “Seit er und sein Nachwuchs die letzten bestienartigen Lebewesen im gesamten Universum sind, ist er etwas eigentümlich geworden. Die ‘Vereinten Sterne’ sind zwar formal eine Art föderale Republik, dennoch tanzt dort alles nach Tolots Pfeife. Wer es beispielsweise wagen sollte, seine ‘Ein-Sterne-Doktrin’ zu verletzen, dem hetzt er sofort die Goldene Garde auf den Hals.”
“Nun gut”, sagte Ellert. “Vertiefen wir das nicht weiter. Immerhin war ich gut 10.000 Jahre fort.” Er hielt kurz inne. “Womit wir bei einem wichtigen Thema wären: Warum ausgerechnet ich? Wie gering mag die Wahrscheinlichkeit gewesen sein, dass ich diesen Körper nach einer derart langen Reise durch Zeit und Raum überhaupt finde.”
“Nahe null”, sagte Rhodan mit ausdruckslosem Gesicht. “Deine Rückkehr zu ermöglichen und darauf zu hoffen, war der letzte in einer endlosen Reihe immer verzweifelterer Pläne.”
“Um was zu erreichen?”
“Wie ich bereits sagte: Ich bitte dich darum, meinen Vater zu finden.”
“Ja, das sagtest du. Perry Rhodan ist seit über tausend Jahren verschollen. Und es ist in dieser Zeit der geballten Macht eines Drei-Galaxien-Imperiums nicht gelungen, ihn aufzuspüren oder das Ziel, das mit seiner Rückkehr verbunden ist, auf anderem Wege zu erreichen?”
Nikki Rhodan verzog den Mund in einer hilflosen Geste, sagte jedoch nichts.
“Und erzähl mir nicht”, fuhr Ellert fort, “dass du in diesem Tamanium nichts zu sagen hättest. Also noch einmal: Warum soll ich Perry finden?”
Es folgte langes Schweigen, zumindest fühlte es sich für Ellert so an, bis Nikki Rhodan leise antwortete: “Weil er mein Vater ist und weil ich ihn brauche.”
Sie räusperte sich, drückte ihren Rücken durch und fuhr mit festerer Stimme fort: “Und weil er vermutlich der Einzige ist, der den intergalaktischen Krieg noch verhindern kann.”
“Warum sollte Tolot jetzt auf einmal das Tamanium angreifen wollen?”, fragte Ellert.
Rhodan schüttelte mit einem bitteren Lächeln den Kopf.
“Nicht Tolot”, sagte sie. “Das Tamanium will angreifen. Das Reich hat seinen Zenit seit einer Weile überschritten, man befürchtet zudem, dass ES sich in der Milchstraße ein neues Hilfsvolk sucht und mit Machtmitteln ausrüstet, die dem Tamanium gefährlich werden könnten. Das ist der Grund, warum hier niemand mehr Interesse an Perrys Rückkehr hat. Er würde versuchen, es ihnen auszureden.”
Sie warf die Arme in die Luft und sagte: “Ja, ich verfüge über einige Ressourcen und mein Wort hat noch einiges Gewicht. Zumindest genug, dass man mir gewisse Freiheiten lässt. Aber mehr als verzweifelte Aktionen wie diese hier kann auch ich nicht mehr aufbieten.”
Ellert schaute sie lange an. Die Ähnlichkeit war wirklich frappierend. Sie hatte sogar seine grauen Augen, ein Merkmal, das Perry seines Wissens bisher noch nie vererbt hatte.
“Okay”, sagte er. “Und ich finde seine Spur im Solsystem.”
“Dort verlor sie sich vor gut tausend Jahren”, sagte Rhodan. “Wie ich bereits sagte, ging es Perry damals um die Menschen des Solsystems. Sie hatten sich Tolots Doktrin unterworfen und sich aus allen anderen Sternensystemen zurückgezogen. Die Posbis waren dabei eine große Hilfe, was das Bündnis der beiden Völker noch einmal dramatisch verfestigt hat.”
“Was ist daran dramatisch?”
“Daran ist dramatisch, dass sich die Terraner damit immer weiter von ihren Schwestern und Brüdern im Trojanischen Tamanium entfernt haben. Perry wollte ihnen noch einmal verdeutlichen, dass sie im Tamanium willkommen sind. Es wäre sogar möglich gewesen, das Sonnensystem nach Andromeda zu versetzen. Also reiste er nach Terra. Allein. Es ist nicht bekannt, was er dort vorgefunden hat, wie er aufgenommen worden ist und was er dort erlebt hat. Denn kurze Zeit später wurde das komplette Solsystem aus der Raumzeit gehoben.
“Der Terranova-Schirm?”
“Was? Ach ja, stimmt, so hieß das Ding vor Urzeiten. Es handelt sich um eine Weiterentwicklung. Aber das tut nichts zur Sache. Seitdem kommen keine Informationen mehr heraus. Ich weiß nicht, ob mein Vater noch dort ist und ob er überhaupt noch lebt. Aber ich bitte Dich inständig, das Solsystem aufzusuchen und dort alles herauszufinden, was über seinen Verbleib bekannt ist.”
3. Wo ist die Erde?
Ernst Ellert schwebte körperlos zwischen den Sternen und überlegte einen Moment lang, ob er die Ereignisse der letzten Stunden wirklich erlebt hatte. War er tatsächlich nach Jahrtausenden der Odyssee durch Raum und Zeit in einem Klonkörper erwacht und hatte sich mit einer Tochter Perry Rhodans unterhalten? Klang das, was sie ihm dabei erzählt hatte, nicht allzu unglaublich? Und doch musste es wahr sein, denn er fühlte sich ganz anders als zuvor. Er spürte den Körper, der auf seine Rückkehr wartete, der ihn in dieser raumzeitlichen Region verankerte.
In den Äonen seiner Existenz hatten sich seine Fähigkeiten vielfach gewandelt und verfeinert. Inzwischen war er in der Lage körperlos durch Raum und Zeit zu reisen und dabei die Dinge um sich herum wahrnehmen zu können, ohne dabei in einen fremden Körper schlüpfen zu müssen. Diese Wahrnehmung mit Begriffen wie “sehen”, “hören” oder “fühlen” zu umschreiben, wurde ihr kaum gerecht. Dennoch verwendete er sie für sich und staunte dabei, wie schnell ihn die Körperlichkeit wieder vereinnahmt hatte.
Wie dem auch sei, dachte er und schaute sich um.
Die DELORIAN IX war dank perfekter Tarntechnologie unbemerkt in die Milchstraße geflogen. Nun schwebte sie direkt vor ihm ungefähr auf halber Strecke zwischen den drei Alpha-Centauri-Sternen und der Stelle, an der sich das Solsystem befinden müsste.
Fasziniert betrachtete er das Raumschiff, dessen Form so vertraut und fremdartig gleichermaßen wirkte. Offenbar war die Kugel noch immer die bevorzugte Bauform bei den Menschenvölkern; tatsächlich war die DELORIAN IX sogar eine nahezu perfekte Kugel ohne Aufbauten, Kuppeln oder ähnlichem. Stattdessen war die blauschwarze Oberfläche von teils leuchtenden Bändern und dünnen Fugen überzogen, die unregelmäßige Muster darauf bildeten und Sensoren, Emitter, Waffen und Hangartore sein mochten, oder nichts von alledem. Von Nikki wusste er, dass die Kugel 1200 Meter durchmaß, was ihn wundern ließ, dass er nur zwei Lebewesen begegnet war. Auf seine Frage hatte sie gelacht und geantwortet, dass es schon ein paar mehr seien, man zur Steuerung des vollautomatisierten Schiffes aber kaum Besatzung benötige.
Am interessantesten war jedoch der Ring, der das Schiff freischwebend am Äquator umgab, was Ellert sofort an comichafte Darstellungen des Planeten Saturn aus seiner Kindheit denken ließ. Laut Nikki beherbergte er das Triebwerk, den sogenannten Dakkarstringdrive oder kurz DSD. In dem Ring befand sich demnach ein mehrdimensionaler String, der in bestimmte Schwingungen versetzt, Gravitationswellen erzeugen konnte, auf denen das Schiff dann “surfte”. Andere Schwingungen konnten das Schiff schließlich aus der Raumzeit schubsen und mit einer Sextadimtransition kosmische Entfernungen zurücklegen lassen.
Ellert löste sich von den Überlegungen und begann seine raumzeitliche Wahrnehmung zu erweitern. Bald nahm er das Schiff wahr, wie es noch nicht da war, schon da war, nicht mehr da war. Er ließ die Zeit etwa eine halbe Stunde vor- und zurücklaufen, um wieder ein Gefühl dafür zu bekommen. Und wieder merkte er, dass der Körper in der DELORIAN IX ihn raumzeitlich verankerte. Umso stärker noch, als das Schiff endgültig verschwunden war – denn man fürchtete trotz aller Tarntechnologie früher oder später doch von Tolots Schiffen entdeckt zu werden -, als würde ihn ein Gummiband mit dem Klonkörper verbinden, das bei größerer Entfernung immer stärker an ihm zog.
Dennoch war der Sog erträglich und schränkte ihn in seiner Bewegungsfreiheit nicht ein.
Es fiel Ellert leicht, sich zwischen den Sternen zu orientieren. Er kannte die Konstellationen, vor allem aber fühlte er einfach, in welcher Richtung das Solsystem zu suchen war. Jeder andere Mensch, der sich hier im interstellaren Leerraum allein wiederfand, wäre selbst im Raumanzug rettungslos verloren gewesen. Ellert hingegen ließ seinen Geist durch die Raumzeit treiben und machte sich auf die Suche. Seine überzeitliche Wahrnehmung erleichterte die Aufgabe enorm, da er alle Wege, die ihn in die Irre führten, bereits sah, ebenso den einen, der ihn ans Ziel brachte.
Er sah, wie er die einsame Posbibox entdecken würde, die im Solsektor Patrouille flog – und dann fand er sie.
*
Er drang in das Schiff ein und sah sich darin um. Auf den ersten Blick wirkte es wie ein Robot-Raumschiff. Es war mit Technik vollgepackt, keine Einrichtung ließ darauf schließen, dass es für irgendeine Art von Besatzung ausgelegt war. Es bewegten sich nicht einmal Roboter durch seine Innereien, von winzigen Drohnenschwärmen abgesehen. Und doch spürte er Leben in diesem Schiff und erkannte schnell, dass das gesamte Gebilde im Grunde ein Posbi war. In seinem Zentrum war Bioplasma untergebracht, das den biologischen Teil des Gehirns darstellte.
So weitgefächert Ellerts Wahrnehmung auch war, ein Telepath war er nicht. Um Informationen aus dem Bewusstsein des Posbis zu erhalten, hätte er darin eindringen müssen, was unweigerlich bemerkt worden wäre. Nikki Rhodan hatte darum gebeten, dass dies nach Möglichkeit eine geheime Operation bleiben sollte. Es war ohnehin nicht erforderlich, dass er den Geist des Posbis mit seiner Anwesenheit belästige. Die gewünschten Informationen erhielt er problemlos aus den peripheren Systemen des Schiffs. So erfuhr er dort, dass das Schirmfeld, das das Solsystem umgab, weniger dem Terranova-Schirm aus seiner Erinnerung glich als vielmehr dem Antitemporalen Gezeitenfeld aus noch älteren Tagen. Kurz: das System war einige Augenblicke in die Zukunft versetzt und somit der Einflussnahme aus dem Normaluniversum entzogen worden. Er war also geradezu perfekt dafür geeignet, diese Barriere zu überwinden.
Diese Erkenntnis ließ ihn einen Moment lang stutzen. Womöglich hatte er Nikki Rhodan doch die falschen Fragen gestellt, oder zu wenige. Doch er verschob diesen Gedanken auf später. Seine ganz persönliche Neugier war viel zu groß. Er war seit über zehntausend Jahren nicht mehr auf der Erde gewesen und war mehr als gespannt auf ein Wiedersehen.
*
Das sollte das Solsystem sein? Einen Moment lang überlegte Ellert, ob das systemumspannende Schirmfeld nicht doch wie der Terranova-Schirm funktionierte und ihn in eine Pararealität versetzt hatte. Andererseits konnte in zehntausend Jahren viel passiert sein.
Erneut war es seiner erweiterten raumzeitlichen Wahrnehmung zu verdanken, dass er die veränderte Struktur des Systems so leicht erkennen konnte, da selbst ein so dicht bevölkertes Sonnensystem bis auf einen winzigen Prozentsatz aus nichts anderem als leerem Raum bestand. Ellert aber nahm wahr, dass nur die äußeren Gasplaneten einen vertrauten Eindruck machten, innerhalb der Jupiterbahn hatte man offenbar massiv umgebaut.
Mehr noch, man hatte die inneren Planeten sowie den Asteroidengürtel komplett entfernt, inklusive der Erde. Auf ihrer Bahn bewegte sich zwar ein Himmelskörper von annähernd richtiger Größe, bei näherem Hinsehen stellte dieser sich aber als der Mond heraus, der von massiven technischen Bauten und Strukturen umgeben war. Ansonsten war das innere Sonnensystem nun von einem unermesslich großen Schwarm künstlicher Habitate, Raumstationen und Raumschiffe erfüllt. All diese Objekte zusammengenommen mochten Lebensraum für etliche Billionen Lebewesen bieten, wenn nicht sogar deutlich mehr.
Ellert wusste, dass es in der Vergangenheit schon mehrfach vorgekommen war, dass einzelne Planeten das Solsystem kurzzeitig oder dauerhaft verlassen hatten, sogar die Erde selbst. Dennoch schockierte ihn dieser Anblick. Auch wenn er die mit Abstand größte Zeit seines Lebens frei von allen körperlichen Zwängen zwischen den Galaxien und Universen verbracht hatte, nagte der offensichtliche Verlust seiner Heimat nun merklich an ihm.
Doch er musste nehmen, was er kriegen konnte. Luna kam in diesen Tagen einer vertrauten Umgebung noch am nächsten. Außerdem war der eingebaute Mond offenbar das Zentrum dieses neuen Lebensraums der Menschheit. Wenn es denn noch Menschen waren, die hier lebten.
*
Ellert konnte nicht anders, die Megastruktur, die den Mond umgab, beeindruckte ihn. Die etwa 12.000 Kilometer durchmessende Kugelschale war keineswegs so durchtechnisiert, wie er es im ersten Moment vermutet hatte. Zunächst war diese Schale nicht geschlossen, sondern bestand aus unzähligen teils filigranen Konstruktionen und Elementen, die den Mond umgaben. Viele davon waren nicht miteinander verbunden und schwebten statisch oder auf nicht-ballistischen Bahnen über Lunas Oberfläche. Die größten geschlossenen Gebilde waren Ringe, die den Mond mit unterschiedlichen Durchmessern und auf scheinbar willkürlichen Ebenen umgaben. Das alles erinnerte Ellert an ein hochkomplexes Uhrwerk, allerdings ergänzt durch etliche organische Strukturen. Viele davon schienen aus gewachsenem Holz zu bestehen.
Auf seinen körperlosen Reisen durch den Kosmos war er oft auf pflanzenartiges Leben getroffen, das sich an die Existenz im Weltall angepasst hatte. Daran erinnerten ihn die gigantischen Baumstrukturen, die sich hunderte Kilometer weit über den Mondhimmel erstreckten. An vielen Stellen schwebten Wasserkugeln, so groß, dass sie vermutlich ganze Meere beinhalteten, überall entdeckte er luftgefüllte Habitate mit wunderschönen Landschaften und fantastischen Städten darin. Und alles war voller Bewegung und Leben. Fahrzeuge, Drohnen, Maschinen, Roboter und Lebewesen aller Art schwirrten umher, bildeten Schwärme und Ströme und ließen diese Welt förmlich pulsieren.
Ellert erkannte, dass allein in dieser Megastruktur um den Mond Billionen Lebewesen existieren mussten, was seine Schätzung für die Bevölkerungszahl des gesamten Sonnensystems noch einmal um ein paar Größenordnungen nach oben korrigierte. Natürlich hatte er dergleichen schon oft gesehen, trotzdem beeindruckte ihn zutiefst, was “seine” Menschheit hier errichtet hatte.
Kurz überlegte er, einfach in den Geist eines beliebigen Lebewesens zu schlüpfen und von ihm zu lernen. Der Verbleib der Erde und Perry Rhodans sollte doch allgemein bekannt sein, wenn zumindest letzterer wenigstens vor tausend Jahren noch hier gewesen war. Ellert verwarf diesen spontanen Gedanken jedoch schnell wieder, da er auf zu vielen Annahmen basierte, für die er keinerlei Grundlage hatte.
Stattdessen sank er weiter zur Mondoberfläche hinab, die an vielen Stellen noch den vertrauten grauen und leblosen Anblick bot. Einer Eingebung folgend steuerte er den Südpol des Mondes an, sein Ziel war die Stelle, an der Perry Rhodan einst seine erste Mondlandung gelungen war und wo der erste Kontakt mit den Arkoniden stattgefunden hatte.
Auch diese Region war noch weitgehend naturbelassen, exakt an der Stelle, an der die STARDUST einst gelandet war, fand er einen hohen strahlend weißen Obelisken vor. Die Inschrift war für ihn schwer zu entziffern, die Zeichen erinnerten nur noch entfernt an die ihm bekannten aus dem Interkosmo-Alphabet. Allerdings waren die Namen der ersten Mondlande-Crew sowie ihres Raumfahrzeugs in alter lateinischer Schrift geschrieben. Es war also sicher: Man erinnerte sich noch an Rhodan und sein Wirken. Zudem musste dieses Monument in den letzten zehntausend Jahren entstanden sein, denn zu seiner Zeit war das Areal ganz anders gestaltet gewesen.
Ellert beschloss, dass es mit dem Sightseeing genug war. Dies war Luna und wenn hier so vieles noch beim Alten war, war der eine, der ihm alle Fragen beantworten konnte, sicherlich auch noch zu finden.
*
Schon zu seiner Zeit war der Mond über weite Strecken ausgehöhlt gewesen. Werften, Produktionsanlagen und vor allem die gewaltigen Speicher und Prozessoren des Mondgehirns NATHAN hatten den einstigen Erdtrabanten ausgefüllt, sodass man bald davon hatte sprechen können, dass NATHAN und der Mond identisch waren.
Was Ellert nun unter der Mondkruste vorfand, stellte alles, woran er sich erinnerte, bei weitem in den Schatten.
Er fühlte sich an uralte Vorstellungen von der Hohlerde erinnert, als er in die gigantischen Kavernen tief unter der Mondoberfläche vordrang. Selbstverständlich hatte er dergleichen schon an vielen Stellen im Kosmos gesehen, beeindruckend war es dennoch.
In einer dieser Kavernen entdeckte er eine dermaßen große Ansammlung an Bioplasma, dass es dem Zentralplasma der Posbis zur Ehre gereicht hätte. Kaum hatte er diesen Gedanken formuliert, erinnerte er sich an die Andeutungen, die Nikki Rhodan gemacht hatte. Terraner und Posbis hätten sich demnach schon vor tausend Jahren enorm aneinander angenähert. Die Wahrscheinlichkeit war also recht hoch, dass es sich hierbei wirklich um das Zentralplasma handelte.
Er wollte sich gerade in dieses biologische Denkzentrum hineinbewegen, als er einen erneuten Sog verspürte, ganz schwach nur und kaum von jenem zu unterscheiden, den sein Klonkörper an Bord der DELORIAN IX auf ihn ausübte. Aber er war vorhanden und wies in eine andere Richtung.
Erneut war seine Neugierde geweckt. Während der Sog zu seinem Klonkörper leicht unangenehm war und stets knapp unter der Schwelle des Schmerzes lag, vermittelte dieser ein Gefühl von Vertrautheit, beinahe von Geborgenheit.
Die gewaltigen Kuppeln des Bioplasmas und die umliegenden Aggregat- und Serverblöcke füllten die Kaverne wie eine Millionenstadt aus. Einige dieser hochausartigen Blöcke mochten tatsächlich Gebäude sein, denn dorthin führte ihn der Sog.
Körperlos wie er war, durchdrang er mühelos die Materie mehrerer Blöcke, die ihn mal an Hyperenergiezapfer, mal an Sextatronik-Server und mal an schlichte Bürokomplexe erinnerten.
Seine Reise endete in einer Art Labor. Zumindest war es ein klinisch sauber wirkender perfekt ausgeleuchteter Saal, der ansonsten komplett leer war. Dennoch fühlte er sich hier irgendwie wohl, fast schon heimelig.
Er wunderte sich selbstverständlich darüber, machte sich aber auch keine Sorgen. Er war ein körperloser Geist, der frei durch Raum und Zeit reisen konnte. Was sollte ihm schon passieren?
Er beschloss, noch einen Moment lang abzuwarten, um dann seinen ursprünglichen Plan wiederaufzunehmen und das Bioplasma zu kontaktieren.
Kaum hatte er diesen Gedanken gefasst, bemerkte er, dass inmitten des Raumes etwas aus dem Boden zu wachsen schien. Er erkannte schnell, dass es nahezu menschliche Füße waren, die dort Schicht um Schicht aufgebaut wurden. Ihnen folgten erwartungsgemäß Beine und schließlich ein Torso, alles in einem matten silbrigen Metall, das dennoch einen organischen Eindruck machte.
Binnen weniger Augenblicke stand ein fertiger Android vor ihm, dessen Gesichtszüge ihm merkwürdig vertraut vorkamen.
Schlagartig erkannte er, dass es seine eigenen waren, die seines Originalkörpers. Im selben Moment öffnete der Android seine Augen – und Ernst Ellert blickte aus eben diesen Augen in die Halle, in der er in seinem neuen Körper stand.
Gefangen! schoss es ihm durch den Kopf. Und das zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit in einer Nachbildung seines einstigen Leibes.
Andererseits fühlte er sich ausgesprochen wohl darin. Der Körper war kraftvoll und fühlte sich dabei leicht an. Er tat ein paar Schritte, deutete Kniebeugen an, Sprang auf und ab. Er musste sich förmlich zurückhalten, kein Rad zu schlagen oder immer herausfordernde Gymnastikübungen zu wagen. Stattdessen suchte er die Wände des Raums nach einem Ausgang ab, fand jedoch keinen.
Erst jetzt kam er auf den Gedanken, den Körper wieder zu verlassen. Er erschrak regelrecht, als ihm dies nicht gelang.
Sein erster Impuls stellte sich also als zutreffend heraus. Dieser Körper war eine Falle und er war buchstäblich mit beiden Beinen hineingetappt.
“Hallo?”, rief er schließlich. Etwas Besseres fiel ihm vorerst nicht ein.
“Hallo Ernst”, erklang eine Stimme hinter seinem Rücken.
Ellert fuhr herum und erblickte einen weitere silbrig-metallische Figur. Ob sie ebenfalls aus dem Boden gewachsen oder auf andere Weise in den Raum gelangt war, war für Ellert nicht mehr zu erkennen.
Er ging auf den anderen Androiden zu und musterte dessen Gesichtszüge, die ihm ebenfalls vertraut vorkamen. Im ersten Moment meinte er sogar Perry Rhodan selbst darin zu erkennen, bemerkte seinen Irrtum jedoch schnell.
Direkt vor dem anderen blieb er stehen und reckte ihn die Hand entgegen.
“Hallo Julian”, sagte er.
Der Handschlag der beiden Wesen erfolgte in einem perfekten Bewegungsablauf. Dennoch kam er Ellert unbeholfen vor.
“Bedeutet das, dass du deinen Körper aufgegeben hast?”, fragte er. “Habt ihr das hier alle vor?”
Der Android mit Julian Tifflors Gesichtszügen lächelte. “Niemand gibt hier etwas auf. Eher ist das Gegenteil zutreffend”, sagte er. “Aber vereinfacht ausgedrückt hast du nicht ganz unrecht, Ernst. Ein Teil von mir existiert inzwischen körperlos in den unendlichen Datenströmen, ein anderer steht nun körperlich vor dir.”
“Es ist Perry also nicht gelungen, euch das auszureden?”
“Ach, du bist seinetwegen hier?”
Tifflor machte eine einladende Handbewegung, auf die hin zwei Sessel vor ihm aus dem Boden wuchsen.
“Wollen wir uns nicht setzen?”, schlug er vor.
“Wir werden diesen Raum also nicht verlassen?”, stellte Ellert die Gegenfrage, machte es sich aber dennoch auf dem Sessel bequem.
Tifflor setzte sich zu ihm und blickte ihn ehrlich erstaunt an. “Warum sollten wir? Hier ist alles, was wir benötigen.”
“Ich staune, dass ihr mich erwartet habt”, sagte Ellert. “Ich wusste bis vor einem Tag nicht einmal mehr, wie mein Name lautet, geschweige denn, dass ich bald diesen Punkt in der unermesslichen Raumzeit aufsuchen würde. Aber ihr hattet dennoch dieses Gefängnis für mich vorbereitet?”
“Nun.” Tifflor schlug entspannt die Beine übereinander. “Die Wahrscheinlichkeit, dass du irgendwann hier auftauchst, war größer als null, daher haben wir Pläne entwickelt, wie mit einer solchen Situation umgegangen werden kann. Diese kamen nun zum Einsatz. Dein Körper wurde vor wenigen Minuten erstellt, die Konfiguration dieses Raumes nur wenig zuvor.”
“Wer ist in dem Zusammenhang ‘wir’?”
“Wir alle hier, die Bewohner des Sonnensystems, Menschen, Posbis, weitere biologische und mechanische Lebensformen und alles dazwischen.”
“NATHAN und das Zentralplasma”, ergänzte Ellert.
Tifflor nickte. “Ja, die gehören auch dazu. Als Oberbegriff für uns alle hat sich inzwischen der Begriff ‘Taraner’ etabliert.”
Der einstige kosmische Lockvogel veränderte erneut seine Sitzhaltung, richtete sich auf und beugte sich zu Ellert hinüber.
“Was möchte ES von uns Ernst? Es gibt hier keine Zellaktivatoren mehr, die einzufordern wären. Wir sind froh, dass unsere Zeit als seine Favoriten bald abgelaufen ist. Er möge sich gern neue suchen, wir haben kein Interesse mehr daran.”
Er lehnte sich wieder zurück und fügte hinzu: “Und Perry suchst du hier auch vergeblich. Er ist nicht hier.”
“Taraner”, murmelte Ellert versonnen und spürte dem Klang des Wortes nach.
“Ich habe mich vor ewigen Zeiten aus dem Kollektivbewusstsein des Wanderers gelöst”, sagte er schließlich und wiederholte damit fast wörtlich, was er schon Nikki Rhodan erklärt hatte. “Ich habe mit ES nichts zu schaffen. Ich bin lediglich auf der Suche nach Perry Rhodan – und bei der Gelegenheit würde mich auch interessieren, wo die Erde abgeblieben ist.”
“Da habe ich eine gute und eine schlechte Nachricht für dich”, sagte Tifflor und fügte hinzu: “Aber wenn du nicht wegen des Ablaufs der 20.000-Jahresfrist hier bist, wieso dann?”
Ellert überlegte einen Moment und versuchte dabei den Blick seines Gegenübers zu ergründen. Doch die künstliche Nachbildung von Tifflors Gesicht zeigte nichts als gelassene Freundlichkeit.
“Ich will ehrlich zu dir sein”, sagte er schließlich. “Dies ist nicht meine Zeit. Ich bin buchstäblich gerade eben erst hier gelandet und kann nichts von dem, was ich hier vorfinde, verlässlich einschätzen. Das schließt dich und das, was ihr hier treibt, ausdrücklich mit ein. Nenne es, wie du willst, ich bin hier in diesem Moment euer Gefangener. Ich befinde mich in einem geschlossenen Raum ohne Ausgang und kann auch diesen – zugegeben sehr angenehmen – Körper nicht verlassen. Du verstehst daher sicher, dass ich mich mit Auskünften einstweilen zurückhalte, solange ich nicht das Gefühl habe, dass wir hier vertrauensvoll auf Augenhöhe miteinander plaudern.”
“Ja, das verstehe ich”, sagte Tifflor. “Und sei versichert, dass auch ich vollkommen ehrlich zu dir bin. Was wir hier treiben ist das wahre Leben, nicht mehr und nicht weniger. Es hat sich weiterentwickelt, wie es das Leben eben tut. Wenn man im Abstand von tausend oder gar zehntausend Jahren kurz mal reinschaut, mag einem das verstörend vorkommen. Doch das ist meist ein subjektiver Eindruck, der in der Regel täuscht. Zur Ehrlichkeit gehört jedoch auch, dass die Freiheit unserer Entwicklung und Entfaltung ungefähr an der Heliopause unserer Sonne endet. Uns binden Vereinbarungen und Absprachen mit der restlichen Milchstraße. Wir haben uns verpflichtet, keinen Einfluss mehr auf die galaktischen und kosmischen Geschicke zu nehmen. Solange wir also nicht wissen, ob du eine Agenda verfolgst und wenn ja welche, können wir dich nicht so ohne weiteres mit potenziell sensiblen Informationen wieder abziehen lassen. Aber gut, wir sind alte Freunde, deine ÜBSEF-Konstante haben wir eindeutig identifiziert, du bist der, der du glaubst und vorgibst zu sein. Also werde ich dir jetzt sagen, was du wissen willst, dann sagst du mir, was ich wissen will, und dann schalte ich das PSI-Dämpfungsfeld ab.”
Ellert nickte.
“Gut”, Tifflor legte die Handflächen auf die Oberschenkel, beugte sich vor und blickte Ellert direkt an. “Perry Rhodan war vor ziemlich genau elfhundert Jahren hier. Zu dieser Zeit hatten sich die Menschen des Solsystems und jene seines Trojanischen Tamaniums bereits sehr auseinandergelebt.”
Ellert hoffte, dass er die Mimik seines Kunstkörpers ähnlich gut im Griff hatte wie Tifflor. Jedenfalls gab er sich alle Mühe, durch keine Regung zu signalisieren, welche Begriffe und Zusammenhänge er schon kannte.
“Er unterbreitete seine Vorschläge”, fuhr Tifflor ungerührt fort, “wir lehnten sie ab. Doch wir boten ihm an, eine Weile hier zu leben und zu beobachten, wie sich alles entwickelte. Das wollte er gerne tun und natürlich nutzte er die Zeit, für seine Ideen zu werben.”
Tifflor machte eine winzige Pause, als wollte er Ellert Gelegenheit für Zwischenfragen geben. Dieser behielt sein Schweigen jedoch vorerst bei.
Julian Tifflor sprach also weiter: “Nach einigen Jahrzehnten nahmen die Spannungen mit der restlichen Milchstraße zu, vor allem, weil bekannt wurde, dass Rhodan hier war. Ich will dich nicht mit den Details langweilen, es lief jedoch darauf hinaus, dass wir uns endgültig in das Solsystem zurückzogen und es abriegelten. Rhodan vereinbarte für sich ein ganz spezielles Exil. Er bekam die Erde, wir brauchten sie hier nicht mehr, den Merkur bekam er als Trabanten obendrauf, denn Luna konnten wir nicht entbehren. Beides wurde zu irgendeiner einsamen Sonne irgendwo in der Milchstraße versetzt.”
Nun konnte Ellert seine Gesichtszüge nicht mehr im Griff behalten. Was Tifflor ihm da so lapidar unterbreitete, war einfach zu unglaublich.
“Dann haben sich ihm einige Menschen angeschlossen?”, fragte er.
“Nein”, sagte Tifflor. “Er ist allein auf der Erde.”
Ellert öffnete den Mund und schloss ihn dann gleich wieder. Es fiel ihm einfach nichts ein, was er dazu sagen sollte.
“Und ehe du fragst”, fuhr Tifflor fort. “Wir wissen nicht, um welche Sonne die Erde nun kreist, diese Information liegt hier ganz bewusst nicht vor. Es gab ein paar tausend geeignete Sterne, von denen einer in einem echten Zufallsprinzip angesteuert wurde. Kein Algorithmus, echtes Quantenzufallsverfahren. Du wirst die Antwort hier nicht finden.”
Ellert schwieg weiterhin und versuchte, sich einen Reim auf all das zu machen, was er hier und an Bord der DELORIAN IX erfahren hatte. Wem durfte er vertrauen, auf welche Seite sollte er sich schlagen? Oder sollte er zusehen, dass er komplett aus dieser kosmischen raumzeitlichen Region verschwand?
Tifflor hatte sich inzwischen wieder zurückgelehnt und sah ihn erwartungsvoll an. Nun war er an der Reihe, ihm zu sagen, warum er hier war. Was sollte es auch schaden, wenn er Tifflor von Rhodans Tochter erzählte? Er wusste offenbar ohnehin vom Trojanischen Tamanium und dass Rhodan damit zu tun hatte. Es konnte nur im Sinne aller beteiligten sein, wenn er von den Angriffsplänen der Trojaner berichtete.
Dennoch wurde ihm unwohl bei dem Gedanken. Die ganze Situation, in der er sich befand, wurde ihm zunehmend unangenehm. Ohne es zunächst zu merken, begann Ellert sich in seinem Sessel zu winden. Er wusste nicht mehr recht, wie er sitzen sollte.
Tifflor bemerkte seine zunehmende Anspannung und setzte eine besorgte Miene auf.
“Ist alles in Ordnung, Ernst?”, fragte er.
“Ja.” Ellert wollte nach Luft schnappen, wozu der künstliche Körper jedoch nicht in der Lage war. “Nein.” Er hielt es im Sitzen nicht mehr aus und stellte sich hin. “Ich weiß es nicht.” Auch das Stehen fiel ihm schwer, er beugte sich vornüber und stützte seine Hände auf den Knien ab.
“Hast du Schmerzen?”, fragte Tifflor, der nun ebenfalls aufgestanden und an Ellerts Seite getreten war. “Das kann überhaupt nicht sein, dieser Körper verfügt über keine Schmerzrezeptoren. Er ist auch vollkommen intakt und unbeschädigt.”
Tifflor schwieg einen Moment lang und blickte scheinbar in die Ferne. Dann sagte er: “Etwas versucht die PSI-Barriere zu umgehen und zu dir vorzudringen. Bereitet dir das diese Schmerzen?”
Ellert kauerte sich immer weiter in sich zusammen, sein Blick richtete sich flehend auf Tifflor. “Ich weiß es nicht”, wiederholte er kaum hörbar. “Es … fühlt sich an, als würde ich … verbrennen … zerschmettert … zerfetzt … Ich habe Angst …”
Ellerts Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze der Panik, mit einem kläglichen Schrei brach er endgültig zusammen. Dann lag sein Kunstkörper reglos da.
Fortsetzung: Old Man Rhodan, Kapitel 4 bis 6
Veronika
30. März 2023 — 22:32
Mit den ganzen Rhodan Romanheften kenne ich mich leider nicht so aus. Wenn ich mich recht erinnere, so habe ich in meiner Jugend mal ein paar gelesen. Recht oberflächlich, was aber eher meiner allgemeinen Stimmung gegenüber dem gelesenen Wort zuzurechnen war, als dem Desinteresse.
Diese ersten Kapitel gefallen mir sehr gut. Es wirkt nicht mit fachlichen Ausdrücken überladen und transportiert sehr geschickt die, den Menschen innewohnenden Wünschen, nach Unsterblichkeit und der Fähigkeit der Körperlosigkeit.
Dann bin ich mal gespannt auf die Fortsetzung.