Buchbesprechung von Uwe Lammers

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Geheimakte Odessa
(OT: Odessa Sea)
Von Clive Cussler & Dirk Cussler
Blanvalet 0615
512 Seiten, TB, 2018
ISBN 978-3-0615-6
Aus dem Amerikanischen von Michael Kubiak

Vorbemerkung: Es ist mitunter interessant, wenn man Romane nicht sofort nach Erscheinen liest, sondern sich damit ein paar Jahre Zeit lässt. Das ist an dem vorliegenden Werk ganz besonders zu spüren und hat ihm bei der Lektüre eine unerwartete Aktualität verliehen. Die Geschichte ist noch aus anderen Gründen recht verschieden von einem landläufigen Clive Cussler-Roman, und ich fand, dass das der Story ausgesprochen gut getan hat.

Im Februar 1917 ist das Zarenreich in Russland dabei, einzustürzen. Die Dynastie der Romanows wankt empfindlich, und ohne ausländische Hilfe kann sie sich nicht mehr an der Macht halten. In dem Moment, wo die bolschewistische Revolution schon an Fahrt gewonnen hat, wird ein geheimer Konvoi von Schiffen über das Schwarze Meer in Richtung Bosporus gesandt, geschützt durch den Zerstörer „Kerch“. Das erweist sich als nötig, denn das Osmanische Reich zählt immerhin zu den Verbündeten des Deutschen Reiches, und so wird der Konvoi auch folgerichtig angegriffen und die „Kerch“ dabei versenkt.

Im zweiten Prolog, im April 1955, befindet sich eine russische Tupolew-Maschine ebenfalls im Raum des Schwarzen Meeres auf einem Testflug. Doch sie wird im Gewitter von einem Blitz getroffen und stürzt ab. Das Schwarze Meer wird auch in diesem Fall zum Grab und nimmt ein Geheimnis mit in die Tiefe.

Die eigentliche Romanhandlung beginnt im Juli 2017: Der Frachter „Crimean Sea“ ist von der Ukraine ausgelaufen mit Kurs auf den Bosporus, als er in einen Sturm gerät und kurz darauf von einem unheimlichen, substanzlosen Tod attackiert wird. Es kann nur noch mit letzter Kraft ein Notruf abgesetzt werden, dann ist die Besatzung tot.

Zum Glück für das Schiff hat ein NUMA-Forschungsschiff, die „Macedonian“, den Notruf empfangen, und Direktor Dirk Pitt senior, der hier an Bord ist, um die Suche des bulgarischen Archäologen Georgi Dimitow zu unterstützen, eilt dem Havaristen zu Hilfe. Dabei kommen sie beinahe ums Leben, denn eine jähe Explosion zerstört das Schiff und versenkt es … im letzten Moment können sie noch einen schwer verletzten Matrosen retten. Dann verschlingt die See das Schiff.

An der bulgarisch-türkischen Grenze haben es derweil die Europol-Sonderermittlerin Ana Belowa und ihr Kollege Petar Ralin mit der Verfolgung von Waffenschmugglern zu tun. Als die „Crimean Sea“ sinkt, erfahren sie davon und werden darauf angesetzt. Da das Schiff allerdings gesunken ist, bitten sie die Forscher von der NUMA um Hilfe. Pitt, der das Ereignis ohnehin seltsam fand, kommt dem Ansinnen nach … und gerät nun in ein Abenteuer, das an lebensbedrohender Action kaum zu überbieten ist. Denn es zeigt sich schnell, dass das Schiff nicht durch einen Unglücksfall untergegangen ist. Stattdessen beförderte es ebenfalls Schmuggelgut – eine Ladung waffenfähigen Plutoniums, das an den Iran verhökert werden soll, damit auf diese Weise die ukrainische Regierung (!) Waffen für den Kampf gegen die prorussischen Separatisten in der Ost-Ukraine (!) erhält.

Spätestens hier denkt man irgendwie, man befinde sich fast in der Gegenwart. Schließlich hat leider in der Realität Russland zusammen mit den Separatisten im Februar 2022 mit einer Invasion der Ukraine begonnen. Der vorliegende Roman weiß davon natürlich noch nichts, aber die Annexion der Krim-Halbinsel durch Russland ist hier klarer Hintergrund, was auch explizit so angesprochen wird, ebenso der (gleichfalls leider reale) Abschuss eines Passagierflugzeugs über der Ukraine, der klar den Separatisten nachgewiesen wurde. Ich hatte hier manchmal schon das Gefühl, dass diese Geschehnisse die Autoren deutlich in ihrer Darstellung beeinflusst haben.

Sind also nun die Machthaber in Kiew die Bösen in der Geschichte? Das könnte man jetzt naiv vermuten, aber so verhält es sich nicht. Nein, auch wenn das jetzt verwirrend klingt. Die Geschichte ist deutlich vertrackter, und letzten Endes wird man erkennen müssen, dass auf ungewöhnlich realistische Weise alle Fraktionen von Protagonisten mehr oder minder düstere Seiten besitzen und eine fragwürdige Moral (von Pitt & Co. mal abgesehen).

Schauen wir uns also mal die Gegenseite an.

Da haben wir beispielsweise den Niederländer Martin Hendriks, dessen Hauptniederlassung der von ihm geleiteten Hightechfirma Peregrine Surveillance Corporation auf den Bahamas ist. Auf den ersten Blick sorgt der Hersteller armierter Drohnen nur für Verwirrung, weil er gar nicht ins Bild zu passen scheint. Das täuscht jedoch. Er ist dabei, Geschäfte mit der ukrainischen Regierung – konkret: Mit Kommandant Arsenij Markowitsch vom Bataillon Ajdar (heute würden wir wohl „Asow-Regimenter“ (!) dazu sagen, schätze ich) – zu machen. Gleichzeitig liefert er aber auch Waffen an die russische Seite (!). Was ihn nicht daran hindert, außerdem noch Drahtzieher hinter dem Nukleardeal mit den Iranern zu sein.

Weitere Verhandlungspartner von Hendriks sind Valentin Mankedo und Ilya Vasko von der Bergungsfirma Thracia Salvage, die hinter dem Anschlag auf die „Crimean Sea“ stecken und sich recht schnell heftig mit der NUMA balgen, um es sehr vorsichtig auszudrücken. Sie sind gewissermaßen die Haupt-Bösewichte der Geschichte, aber was für eine Waffe sie einsetzten, um die Schiffsbesatzung zu ermorden, bleibt lange rätselhaft.

Und dann wird die Geschichte sehr abenteuerlich – denn obgleich es Ana Belowa und Dirk Pitt durchaus gelingt, das Uran sicherzustellen, sind sie längst auf ein weiteres Rätsel gestoßen. Dicht neben dem Wrack der „Crimean Sea“ liegt nämlich ein Wrack aus dem Ersten Weltkrieg – die „Kerch“. Und aus dessen Lagerräumen hat Mankedos Bergungsunternehmen den Safe gehoben, in dem eine Geheimakte enthalten ist, die auf einen Schatz aus der Zarenzeit hindeutet. Das ist freilich nur ein Teil des Geheimnisses, das noch für sehr viel Verheerung und Tod sorgen wird.

Allerdings hat Pitt das von dem Wissenschaftler Dimitow gesuchte osmanische Segelschiff entdeckt, das sich in der sauerstoffarmen Umgebung auf dem Grund des Schwarzen Meeres perfekt erhalten hat … aber verrückterweise liegt auf Deck die gut erhaltene Leiche eines russischen Fliegers. Das wiederum führt nun Dimitow auf die Spur eines weiteren Geheimnisses der Vergangenheit, von dem Pitt lange keine Ahnung hat.

Und dann ist da ja auch noch jene Handlungsspur vor Norwegen, wo die Pitt-Kinder Summer und Dirk junior ozeanografische Strömungen untersuchen und dabei zu ihrer Verblüffung auf ein Schiffswrack aus dem Ersten Weltkrieg stoßen. Es handelt sich, wie sie herausfinden können, um die „Canterbury“, die von einem deutschen U-Boot torpediert wurde. Als Dirk junior und Summer hinabtauchen, um das Wrack zu untersuchen, finden sie zu ihrer Verblüffung einen Goldbarren mit dem Prägestempel der Romanows … und gleich darauf wird die „Canterbury“ von einem russischen Bergungsschiff zerstört.

Wie das alles dazu führt, dass beinahe Sewastopol untergeht, wieso es in England zu einer wilden Verfolgungsjagd zwischen den Pitt-Kindern und russischen Agenten kommt, warum das alles mit einem versenkten U-Boot und weiteren Wracks zu tun hat und dies letztlich darin kulminiert, dass fast eine amerikanische Großstadt vernichtet wird … das muss man wirklich gelesen haben. Die Plotstruktur ist beeindruckend vertrackt und solide gebaut.

Im Vergleich zum Vorgängerroman „Die Kuba-Verschwörung“ hat dieser Roman definitiv sehr viel mehr Bodenhaftung. Seine Protagonisten sind nicht schematische 0815-Stumpfsinns-Bösewichter, sondern raffinierte, verschlagene und schier unkaputtbare Schurken, die den Pitts und ihren Helfern meist ein oder zwei Schritte voraus sind und die mit der Regelmäßigkeit einer ungeliebten Krankheit immer wieder in Erscheinung treten und Probleme erzeugen.

Besonders reizvoll fand ich an der Geschichte, dass speziell Dirk Pitt senior sehr lange überhaupt nicht konkret zu sagen wusste, wer eigentlich seine Gegner sind und was genau ihre Ziele sind. Die Motivation gerade des intransparenten Hendriks bleibt fast bis zum Schluss im Dunkeln. Und es wimmelt vor grässlichen Zwischenfällen. Da werden Hinterhalte gelegt, Flugzeuge in die Luft gesprengt, Boote versenkt, Menschen verstümmelt, gemeuchelt oder entführt und dem sicheren Tod überlassen … es wird wirklich überhaupt nicht langweilig, weil man als Leser stets versucht, Verbindungslinien herzustellen, die sich lange nicht ergeben. Man grübelt also automatisch mit, und das finde ich bei Romanplots immer äußerst anregend.

Dabei verbinden sich hier die spannenden Elemente einer verwinkelten Schatzsuche a la „Indiana Jones“ oder „Uncharted“, die ich schon an den Fargo-Abenteuern geschätzt habe, mit der klassischen Action eines Cussler-Romans. Man merkt indes auch hier wieder deutlich, dass der Roman klar für den modernen puritanischen Geschmack des amerikanischen Publikums geschrieben wurde. Erotik: Fehlanzeige. Frauen dürfen tough sein und raffiniert, ja, aber so etwas wie ein sexuelles Selbst dürfen sie nicht besitzen … man könnte das als antifeministische Diskriminierung betrachten. Doch ich muss sagen, der Rest des Romans ist dafür einfach zu gelungen geschrieben.

Seit langem mal wieder ein Roman vom Vater-Sohn-Duo, der mir wirklich gefallen hat. Klare Leseempfehlung!

© 2022 by Uwe Lammers, Braunschweig, den 16. September 2022

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